Am 27. Dezember 2020 haben etwa 50 Menschen vor dem Amtsgericht in Neuss an den gewaltsamen Tod von Şahin Çalışır vor 28 Jahren erinnert. Er kam im Alter von 20 Jahren auf der A57 ums Leben. Einer der Beteiligten war ein Solinger Neonazi, der in der Kampfsportschule Hak Pao trainierte – jener Einrichtung, über die der V-Mann Bernd Schmitt Kontakt zu den jungen Männern hatte, die wenig später für den Brandanschlag auf die Solinger Familie Genç verurteilt werden sollten.
Das Magazin „Der rechte Rand“ zählte 2017 den Anschlag auf Şahin Çalışır zu den zahlreichen Beispielen rassistischer Gewalt, die mit Autos als Waffen durchgeführt wurden:
Der 20-jährige Sahin Calisir und zwei andere türkischstämmige Männer werden auf der Autobahn 57 bei Meerbusch in Nordrhein-Westfalen von einem polizeibekannten rechten Hooligan mit dem Auto verfolgt und gerammt. Die drei Opfer verließen aus Angst den Wagen. Calisir wurde von einem anderen, vorbeifahrenden Auto erfasst, überfahren und verstarb an den Verletzungen. Das Gericht Neuss wollte später kein rassistisches Motiv für die Verfolgung erkennen, der 23-jährige Fahrer des Wagens wurde 1993 wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung zu 15 Monaten Haft verurteilt. Auch der Beifahrer des Täters hatte Kontakte in die extreme Rechte.
Der Angehörige Orhan Çalışır sprach am vergangenen Sonntag über den Gerichtsprozess, der seine Familie schwer belastete.
Auch der Solinger Appell war bei dem vom Bündnis „Kein Platz für Nazis Wuppertal“, von Kutlu Yurtseven und der Initiative „Herkesin Meydanı – Platz für Alle Köln“, der Karawane Wuppertal und der Migrantifa NRW organisierten Gedenken mit einem Redebeitrag vertreten:
„Geschätzte Antifaschistinnen und Antifaschisten!
Ich spreche hier für den Solinger Appell, der sich aus Anlass des Brandanschlags von Solingen gründete. Wir erinnern heute an den Mord an Şahin Çalışır vor 28 Jahren. Der Solinger rechte Hooligan Klaus Evertz saß bei dieser Jagd auf Ausländer auf der Autobahn am Steuer. Mit im Auto saßen zwei weitere rechte Solinger Hooligans. Der Beifahrer von Evertz, Lars Schoof, trainierte in der Karateschule Hak Pao und war als Ordner für die rechtsextreme „Deutsche Liga für Volk und Heimat“ tätig.
Bei Hak Pao verkehrten auch mehrere der Täter des Mordanschlags von Solingen, bei dem fünf Monate später, am 29. Mai 1993 fünf Frauen und Mädchen mit türkischer Migrationsgeschichte ermordet wurden. Der Leiter der Kampfsportschule Hak Pao, Bernd Schmitt, war ein bezahlter V-Mann des Verfassungsschutzes. Die Kampfsportschule führte Saalschutz für rechtsextreme Organisationen durch. Drei Täter der Morde von Solingen und ein Täter des Mordes an Şahin Çalışır trainierten hier ebenso wie überregional aktive Nazikader u.a. der Nationalistischen Front.
Unter Mitfinanzierung und unter den Augen des so genannten Verfassungsschutzes wurden Solinger Jugendliche bei Hak Pao aufgehetzt und scharf gemacht. Im Prozess zum Solinger Brandanschlag wurde die Verwicklung des Verfassungsschutzes in den Aufbau von Nazistrukturen unter den Teppich gekehrt. Der Leiter der Kampfsportschule, Bernd Schmitt, konnte sich auf sein so genanntes Zeugnisverweigerungsrecht als V-Mann des Verfassungsschutzes berufen. Bis heute hat sich keiner der staatlich Verantwortlichen für dieses unerträgliche Vorgehen entschuldigt. Bis heute werden Rechtsextremisten mit öffentlichen Geldern vom Verfassungsschutz finanziert. Wir fordern die Beendigung dieser Praxis und die Auflösung des Verfassungsschutzes.
Die Amadeu Antonio Stiftung zählt zurzeit 213 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990. Es ist wichtig, dass wir nicht aufhören, an jedes einzelne dieser Opfer zu erinnern. Es ist wichtig, immer wieder einzufordern, dass ein Bruch durchgesetzt wird: Ein Bruch mit der rassistischen Hetze durch Politiker und Medien. Ein Bruch mit der Verharmlosung und finanziellen und personellen Unterstützung von Naziorganisationen. Ein Bruch damit, dass den Migranten ihre politischen und sozialen Rechte vorenthalten werden.
Das Schicksal von Şahin Çalışır ist in Solingen und bundesweit völlig verdrängt worden. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam an vielen Orten, wie auch u.a. in der Kölner Keupstraße für sichtbare Zeugnisse im öffentlichen Raum kämpfen, zur Erinnerung an die Opfer des Nazi-Terrors und als Zeichen des Widerstands gegen Rassismus. Und es ist wichtig, dass die Naziorganisationen, die für die anhaltenden rassistischen Gewalttaten verantwortlich sind, endlich effektiv bekämpft werden.“