Vor etwas mehr als einem Jahr hat das Bündnis „Solingen ist Bunt statt Braun“ erstmals dazu aufgerufen, die Initiative „Seebrücke“ zu unterstützen. Rund 250 Teilnehmer kamen damals zu der Kundgebung am Fronhof. Vertreter*innen von Kirche, Wohlfahrtsverbänden, Jugendstadtrat, Amnesty International und anderen appellierten an die verantwortlichen Politiker, Seenotretter zu unterstützen statt sie zu kriminalisieren. Dr. Christoph Zenses berichtete von seinem Einsatz im Mittelmeer auf der Seawatch. Oberbürgermeister Tim Kurzbach erklärte, dass er sich seinen Amtskollegen aus Düsseldorf, Köln und Bonn anschließen wolle und stellte fest, dass auch Solingen noch Kapazitäten habe, um aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. Er schrieb zusammen mit den OB aus Wuppertal und Remscheid einen entsprechenden Brief an die Bundesregierung.

Passiert ist nichts, eine Antwort blieb bis heute aus. Die Behinderung von privater Seenotrettung hat sich weiter verschärft, die Zahl der Opfer mangels Rettungshelfern steigt, die EU kann sich nicht auf eine Regelung zur Verteilung von Geflüchteten einigen.

Die wichtigsten Signale gehen nach wie vor von den Kommunen aus. Die Zahl der Städte, die sich als „Sichere Häfen“ bezeichnen wächst. Auch Solingen erfüllt zwei Punkte aus der Liste der Forderungen, die eine menschenwürdige und der Europäischen Konvention der Menschenrechte entsprechende Lösung sicherstellen sollen. Der Evangelische Kirchenkreis Solingen entschied auf seiner letzten Synode, dass hier noch einmal das Gespräch mit der Kommunalpolitik gesucht werden soll, damit Solingen sich auch aktiv zu den Zielen der „Sicheren Häfen“ bekennt.

Bunt statt Braun unterstützt diesen Vorstoß und hat am 31. August zu einer weiteren Kundgebung am Fronhof aufgerufen, um darüber zu sprechen, was Solingen leisten und wie den Appellen der Kommunen mehr Nachdruck verliehen werden kann.

Zur Begrüßung erinnerte Hans-Werner Bertl an die Irrfahrt der St. Louis vor 80 Jahren. Er zitierte aus einem Text von Jonas Mueller-Töwe über die verzweifelte Lage jüdischer Flüchtlinge, die damals hofften, in Kuba Aufnahme zu finden:

Hans-Werner Bertl begrüßte die Teilnehmer der Kundgebung. Foto: Daniela Tobias

Am 27. Mai geht die St. Louis deshalb in der Bucht von Havanna vor Anker. Am Pier darf sie nicht anlegen. Polizeiboote umkreisen das Schiff, die Passagiere dürfen nicht von Bord. Auch nach tagelangen Verhandlungen zeichnet sich kein Ergebnis ab. Die Stimmung an Bord schwankt zwischen nervöser Hoffnung und Verzweiflung. Einige Passagiere halten dem Druck nicht stand und versuchen, sich das Leben zu nehmen. Doch die kubanische Regierung bleibt hart: Am 2. Juni muss die St. Louis die kubanischen Hoheitsgewässer verlassen. „Kapitän, wohin fahren Sie uns?“, wird Gustav Schröder gefragt. Vermutlich das erste Mal in seinem Seemannsleben weiß er keine Antwort.

Zurück in Europa einigte man sich zwar auf eine Verteilung der Hilfesuchenden, aber nur diejenigen, die in Großbritannien Aufnahme fanden, waren tatsächlich in Sicherheit.

Die Passagiere werden in vier Gruppen aufgeteilt. Belgien nimmt 214 Flüchtlinge auf; 181 finden in den Niederlanden Asyl. Der notdürftig umgebaute HAPAG-Frachter Rhakotis nimmt die 224 für Frankreich und 287 für Großbritannien bestimmten Passagiere auf. Fast alle St. Louis-Flüchtlinge, die in Großbritannien Asyl fanden, überlebten den Krieg. Von den 620 Passagieren, die nach  Kontinentaleuropa zurückkehren mussten, wurden 254 in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet.

Dr. Ilka Werner sprach für den Evangelischen Kirchenkreis. Foto: Jörg Schmidt

Moderatorin Susanne Bossy vom Caritasverband Wuppertal/Solingen fragte Dr. Ilka Werner nach der Motivation des Evangelischen Kirchenkreises, sich für die Seenotrettung stark zu machen. Die Superintendentin erinnerte in ihrem Plädoyer an die Gebote der Nächstenliebe und der Humanität.

Oft wird gesagt: „Wir können nicht die ganze Welt retten“. Das müssen wir auch nicht, darum geht es gar nicht. Es geht darum, zu tun, was wir können. Und es geht darum, das, was wir können, etwas weniger egoistisch zu bestimmen und jetzt für unsere Stadt deutlich zu sagen: Mensch Solingen, da geht noch was! Im jüdischen Talmud heißt es: „Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt“. Jesus Christus sagt: „Was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Wenn wir nicht alle retten und aufnehmen und integrieren können, ist das keine Entschuldigung dafür, nichts zu tun.

 

Oberbürgermeister Tim Kurzbach forderte zum Zusammenhalt auf. Foto: Daniela Tobias

Oberbürgermeister Tim Kurzbach wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig neben der professionellen Arbeit von Kommune, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und anderen Einrichtungen das Engagement der Solinger Bürger*innen war und ist, um Integration und das Einfinden in die neue Heimat möglich zu machen und zu erleichtern. „Diese Aufgabe wird uns weiter begleiten, denn es kommen immer noch jeden Monat Menschen neu zu uns.“ Gerade, wenn die Stadt Solingen den Appell Richtung Berlin und Brüssel richte, menschenwürdige Asylverfahren in Europa zu gewährleisten, sei es wichtig, dass die ganze Stadt dahinterstehe und praktisch mit anpacke, aber auch jeder dafür einsteht, die Menschenwürde aller gleichermaßen zu schützen und zu widersprechen, wenn Minderheiten ausgegrenzt und diffamiert werden. Es sei mühsam, aber notwendig im Dialog zu bleiben.

Dr. Christoph Zenses, der schon im vorigen Jahr von seinen Einsätzen im Mittelmeer auf der Seawatch und im Lager Moria auf Lesbos berichtete, konnte diesmal leider nicht an der Veranstaltung teilnehmen und von der Arbeit berichten, die er als Arzt inzwischen mit dem neu gegründeten Verein Solingen hilft e.V. im Camp Moria leistet. Besonders bedrückt den Mediziner, dass immer mehr Menschen dort ohne eine absehbare Lösung ihrer Situation unter unmenschlichen Bedingungen ausharren müssen.

Horst Koss hat der Besuch auf Lesbos tief beeindruckt. Foto: Jörg Schmidt

Auch Horst Koss hatte sich kürzlich einen Eindruck von den Verhältnissen in dem griechischen Lager machen wollen. „Ich habe versucht, Fotos zu machen. Sofort standen Aufpasser hinter mir, die mir das verboten haben.“ Der Versuch der EU, das Flüchtlingsthema an seine Außengrenzen zu verdrängen, scheitert fortwährend.

Und in dieser Situation gibt es Griechen und Griechinnen, die ehrenamtlich die Menschen in den Lagern aufsuchen. Ihnen gilt mein allergrößter Respekt und Anerkennung.

 

[…] Ich kann nur sagen: Wir dürfen die Menschen, die an den europäischen Außengrenzen ohne Verfahren festgehalten werden, nicht vergessen, oder wie es Julia Freiwald in der Einladung zur heutigen Kundgebung ausgedrückt hat: Uns geht es gut – wir können helfen.

Susanne Bossy ging mit dem Publikum ins Gespräch. Foto: Daniela Tobias

Moderatorin Susanne Bossy ging mehrfach mit dem Mikrofon auf die Besucher zu und ließ sie zu Wort kommen. Auf einem Plakat mit den Forderungen der Seebrücke an Sichere Häfen konnten diese außerdem mit Klebepunkten die Themen markieren, die sie zu unterstützen bereit sind und die den Mitgliedern des Solinger Stadtrats demnächst angetragen werden sollen.

Die Frage des Umgangs mit Menschen auf der Flucht wird voraussichtlich auch beim Interkulturellen Abend der Begegnung am 24. September ab 18:30 Uhr im Zentrum für Verfolgte Künste Thema sein. Hier heißt es: „Milieus, Kulturen, Religionen. Wie geht die Jugend damit um?“

Am 12. November um 19:30 Uhr lädt „Solingen hilft e.V.“ ebenfalls im Zentrum für Verfolgte Künste zu einer Podiumsdiskussion mit dem Journalisten Tim Röhn, mit Dr. Christoph Zenses und Dr. Ilka Werner zu der Frage „Wo sind unsere Grenzen?“ ein. Uli Preuss moderiert die Runde.

Solingen bleibt dran!